Dieses Blog durchsuchen

Helga König im Gespräch mit Petra Gerster und Christian Nürnberger über ihr Buch "Der rebellische Mönch, die entlaufene Nonne und der größte Bestseller aller Zeiten", Verlag Gabriel

Liebe Petra Gerster, lieber Christian Nürnberger, dieser Tage habe ich  Ihr Buch "Der rebellische Mönch,  die entlaufene Nonne und der größte Bestseller aller Zeiten" auf "Buch, Kultur und Lifestyle" rezensiert. Dazu möchte ich Ihnen heute einige Fragen stellen.


Helga König: Welchen Stellenwert hatte Martin Luther in Ihrer Kindheit und Jugend und welchen Stellenwert hat er heute in Ihrem Denken? 

Christian Nürnberger, Petra Gerster
Christian Nürnberger:  Einen hohen, damals wie heute. Als Kind habe ich regelmäßig den Kindergottesdienst besucht, und auch als Jugendlicher war ich, so lange ich noch in meinem Heimatort lebte, ein eifriger Gottesdienstbesucher. Daher begegnete ich Luther über viele Jahre hinweg praktisch an jedem Sonntag, denn sein Bild hängt noch heute überlebensgroß in der Kirche, in der ich getauft und konfirmiert wurde. Da blickt er ernst, würdig, ein bisschen streng und zugleich sehr selbstbewusst in den Kirchenraum hinein und deutet mit dem Finger in die Heilige Schrift, womit er dem Betrachter sagt: "Das hier, die Bibel, ist die einzige Autorität, die ich gelten lasse."Ich lernte dann aber rasch, dass es noch zwei weitere Autoritäten für ihn gab: die Vernunft und das Gewissen. Erst sehr viel später, als junger Erwachsener, hatte ich begriffen, wie revolutionär das damals war, als ein kleiner Mönch aus der Provinz auf der damals größten denkbaren Bühne, nämlich dem Reichstag in Worms, vor Kaiser und Papst diesen höchsten Autoritäten sagte: Ihr seid abgesetzt. Ab sofort sollen Schrift, Vernunft und Gewissen die einzig gültigen Autoritäten sein. 

Ich denke, dass mich das schon sehr tief geprägt hat. So ist es beispielsweise für mich unvorstellbar, eine höchste menschliche Autorität anzuerkennen, die mir den Verzicht auf selbständiges Denken abnötigt, mir sagt, was ich zu glauben habe, und mir Vorschriften macht, die in meine Sexualität und die Tiefe meines Privatlebens eingreifen. Deshalb glaube ich auch nicht an eine Wiedervereinigung der Kirchen, denn zwischen Papst und Nicht-Papst gibt es keinen Kompromiss – es sei denn, dass eine der beiden Seiten sich selbst aufgibt um des Evangeliums oder der Liebe willen. 

 Helga König
Helga König: Welche Bedeutung hatte Martin Luther für Sie in Ihrer Kindheit und Jugend und welchen Stellenwert hat er heute in Ihrem Denken? 

Petra Gerster: Luther habe ich sehr früh entdeckt – wir wohnten in Worms ja nur fünf Minuten vom größten Lutherdenkmal der Welt entfernt! Da spielten wir, zwischen Melanchthon und Jan Hus, um den Giganten Luther auf seinem hohen Sockel herum. Und zuhause fiel der Name auch oft. Für meine - protestantische - Mutter war Luther ein Held, der es allen gezeigt hat. Sie bewunderte seinen Mut, unter Einsatz seines Lebens gegen Kaiser und Papst aufzustehen. Das hat sich mir eingeprägt, obwohl ich ja - auf Wunsch meines katholischen Vaters wie meine Geschwister katholisch getauft - zur "Gegenseite" gehörte. Religion und Kirche waren da natürlich oft Gesprächsthema im Hause Gerster. Und der protestantisch-"ketzerische" Einfluss von Mutter und Großmutter hat sicher dazu beigetragen, dass wir gegenüber der Institution Kirche, wie Katholiken sie verstehen, recht kritisch wurden.  

Helga König: War Luthers theologischer Werdegang zunächst möglicherweise tatsächlich nur eine Notlösung, um nicht Jura studieren zu müssen und insofern die Reformation dem Zufall geschuldet?

Christian Nürnberger:  Die ganze Reformation war auch eine Folge miteinander verketteter Zufälle. Dass Luther nicht Jura studieren und nicht heiraten wollte, wie es sein Vater wünschte, der vermutlich sogar schon eine Braut für ihn ausgesucht hatte, und dass Luther davor ins Kloster flüchtete, ist nur einer dieser Zufälle, wenn auch der erste. Das Geburtsjahr Luthers ist ein weiterer Zufall. Wäre er 60 Jahre früher geboren worden, wäre die Reformation kaum möglich gewesen, denn sie bedurfte der Erfindung des Buchdrucks, und der kam erst 1450. Deshalb hatte die katholische Kirche ein Jahrhundert vor Luther den Ketzer Jan Hus noch problemlos verbrennen können. So etwas wie Öffentlichkeit hatte es noch nicht gegeben. Die hat sich erst mit dem Buchdruck entwickelt. Weitere Zufälle lieferte die Weltpolitik. Als Luther im Clinch mit Rom lag und dort längst entschieden war, dass er verbrannt werden muss, starb der amtierende Kaiser, gleichzeitig griffen die Türken an. Daher hatte der Papst nun Wichtigeres zu tun als den Ketzer zu verbrennen, und so ruhte der Fall Luther für mindestens zwei Jahre. Während dieser Jahre hat er ein Buch nach dem anderen geschrieben und haben sich seine Lehren im ganzen Reich und darüber hinaus verbreitet. 

Danach hätten sie Luther zwar noch umbringen können, aber nicht mehr seine Ideen, nicht mehr die Reformation. Die wäre nun auch ohne ihn weitergegangen. Noch ein glücklicher Zufall ergab sich aus der Tatsache, dass Luther in einem Fürstentum lebte, das einen weisen Herrscher hatte, der schützend seine Hand über ihn hielt – das alles und noch einiges mehr hat wesentlich zum Erfolg der Reformation beigetragen. an 

Helga König: Worin sehen Sie die Hauptleistung Luthers? 

 Christian Nürnberger, Petra Gerster
Christian Nürnberger: Ich glaube, die lag in seiner Wortmacht. Er hat ja diese Kulturrevolution namens Reformation allein durch sein Wort zustande gebracht, und zwar innerhalb von vier Jahren. Am Anfang standen seine 95 Thesen, am Ende sein berühmtes "Hier stehe ich, ich kann nicht anders", das er so nicht gesagt hat, aber das ist egal, denn was er wirklich gesagt hat, war ja noch viel revolutionärer, und das hatte ich vorhin schon erwähnt. Er setzte die alten Autoritäten ab und etablierte neue: die Bibel, die Vernunft, und das Gewissen. 

Helga König:  Luther war sehr sprachbegabt. Wir verdanken ihm zahllose Wortschöpfungen. Gibt es Wortschöpfungen Luthers, die Sie noch heute nicht missen möchten? 

Petra Gerster:  Oh ja, er hatte sich ja beim Übersetzen der Bibel ins Deutsche manche Wörter erst schnitzen müssen, weil es für das, was er sagen wollte, noch keine deutschen Wörter gab. Und so erfand er vor 500 Jahren Wörter, denen man bis heute ihr Alter nicht ansieht, das Lästermaul zum Beispiel, den Lückenbüßer oder die Gewissensbisse. Der Bluthund stammt von Luther, der Sündenbock, die Bosheit, die Barmherzigkeit, das Machtwort, der Denkzettel oder die Nachteule. Wir verdanken Luther das "Buch mit sieben Siegeln", den "Wolf im Schafspelz" und Metaphern wie "Perlen vor die Säue werfen", "die Zähne zusammenbeißen", etwas "ausposaunen". "Auf Sand bauen" geht ebenso auf Luther zurück wie das Wort "wetterwendisch". Und noch vieles mehr. 

 Helga König
Helga König: Welche Eigenschaften Luthers waren unumgänglich, um seine Lebensleistungen zu realisieren und vermuten Sie, dass Luther aus Vernunftgründen heute an einer "Religion für alle"gearbeitet hätte, um auf diese Weise zur Friedenssicherung beizutragen? 

Christian Nürnberger:  Am Anfang war da seine gewaltige Furcht vor der ewigen Verdammnis. Er wusste, dass Gott ins Herz hinein sieht, und er wusste auch, was Gott da zu sehen bekommt: ein abscheuliches Gebrodel aus Neid, Lüsternheit, Schadenfreude, Egoismus, Machtstreben, Gier, Rachsucht, und zwar bei jedem Menschen. Nun ist Gott ja ein gerechter Gott, und wenn er das wirklich ist, muss er im Grunde jeden verdammen und in der Hölle schmoren lassen. Deshalb wurde Luther in seinen ersten Lebensjahrzehnten von der Frage umgetrieben: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Mit dieser existenziellen Frage im Kopf studierte er Theologie und kam zu Erkenntnissen, die vor ihm keiner hatte. Eine zweite für die Reformation wichtige Eigenschaft war sein sturköpfiges Selbstvertrauen in das, was er sich durch gründliches Nachdenken und intensives Studieren erarbeitet hatte. Wenn er einmal etwas als richtig und wahr erkannt hatte, hielt er daran fest und war von keiner irdischen Autorität mehr davon abzubringen, es sei denn, dieser gelänge es, ihn im Disput zu widerlegen. Die dritte Eigenschaft erwähnte ich schon: seine Sprachgewalt, seine Wortmacht, die Fähigkeit, Kompliziertes so einfach auszudrücken, dass es auch die Magd versteht. Darüber spekulieren, was Luther heute sagen und tun würde, möchte ich nicht. Wenn der Luther, den wir kennen, heute wiederkäme, würde er die Welt nicht verstehen, in der wir leben und würde sie abscheulich finden. Wenn er dagegen heute noch einmal geboren würde, würde er sich völlig anders entwickeln als er sich vor einem halben Jahrtausend entwickelt hatte, aber wie er sich heute entwickeln würde, wissen wir nicht. 

Helga König: Sie haben das Kapitel über Luthers Ehefrau Katharina von Bora verfasst. Können Sie unseren Lesern diese Persönlichkeit kurz charakterisieren und erklären, welchen Einfluss sie auf Luther und seine Lebensleistungen hatte? 

 Christian Nürnberger, Petra Gerster
Petra Gerster:  Was wir über Katharina von Bora wissen, lässt auf eine starke Persönlichkeit mit einem wachen Geist, Mut und vielen Fähigkeiten schließen. Schließlich war sie es, die als junge Frau im Kloster schon Luthers Texte las und weitergab und ihm schließlich schrieb, damit er ihr und den anderen Nonnen zur Flucht verhelfe. Sie war es auch, die Martin Luther die Ehe antrug, nicht umgekehrt. Und in ihrem Leben als Ehefrau, Mutter, Managerin und Organisatorin eines riesigen Haushalts erwies sie sich im Schwarzen Kloster zu Wittenberg als so kompetent und tüchtig, dass sie das Anwesen beständig vergrößerte und umbaute und Luther zu einem wohlhabenden Mann machte. Für die damalige Zeit war diese Ehe geradezu modern. Katharina behielt immer ihren eigenen Kopf und begegnete ihrem Mann auf Augenhöhe. Das konnte sie aufgrund ihrer Herkunft und weil sie als Nonne im Kloster eine gute Erziehung und Bildung erworben hatte. Wie sehr Luther seine Frau schätzte und respektierte, kann man am besten in seinen Briefen an sie lesen. 

 Helga König
Helga König: Luther war – seine Lebensleistungen zeigen es – ein sehr nachdenklicher Mensch. Weshalb konnte er Ihrer Meinung nach seinen Hass und seine Vorurteile nicht durchdenken und überwinden? 

Christian Nürnberger: Bei aller Nachdenklichkeit und bei allem revolutionären Furor, den Luther zeigte, war er dennoch ein zutiefst mittelalterlicher Mensch und ist es bis zuletzt geblieben. Bis zuletzt hatte er an Geister, Dämonen, Hexen und Zauberei geglaubt. Bis zuletzt hatte er geglaubt, dass der christliche Glaube an Jesus der allein seligmachende und einzig wahre Glaube sei. Deshalb hielt er den muslimischen Glauben für eine Irrlehre, die es zu bekämpfen gilt. Deshalb war er über die Juden erzürnt, dass sie sich weigerten, sich zum Christentum zu bekehren, und das umso mehr, als er doch den christlichen Glauben von allen Unsauberkeiten gereinigt und damit, wie er dachte, für die Juden akzeptabel gemacht hatte. Luther hatte also die Juden nicht wegen ihrer Rasse abgelehnt, sondern wegen ihrer Weigerung, Jesus als Messias anzuerkennen. Insofern war Luther kein Antisemit, sondern "nur" Anti-Judaist – was aber natürlich trotzdem nicht seine unglaublich hasserfüllten, judenfeindlichen, alle evangelischen Christen noch heute beschämenden Ausfälle Luthers entschuldigt, aber es hilft zumindest zu verstehen, wie er auf solche Abwege geraten konnte. Im übrigen ist es heute, mit dem Wissensvorsprung von einem halben Jahrtausend, leicht und deshalb auch billig, sich siebengescheit über Luther zu erheben und ihn auf einen Antisemiten zu reduzieren.

Helga König: Worin sehen Sie den besonderen Reiz der Buchillustrationen von Irmela Schautz? 

Petra Gerster:  Ich finde die Illustrationen von Irmela Schautz in jeder Hinsicht ansprechend: Neben ihrem ästhetischen Reiz schaffen sie es, Luthers Wirken in einem Bild zu verdichten, das man sofort versteht, weil es einerseits den konkreten Menschen zeigt, andererseits aber mit vielen Symbolen arbeitet. Wenn er z.B. in Worms widerrufen soll, steht er bei Irmela Schautz auf dem festem Grund der Bibel und anderer theologischer Schriften. Wenn er in Wittenberg seine Thesen anschlägt, dann sieht man die vor dem Hintergrund einer Weltkarte - und versteht die welthistorische Bedeutung. Und Katharina stellt sie wie eine indische Gottheit mit vielen Armen dar - gemäß ihrer Selbstauskunft, in der sie von siebenerlei verschiedenen Ämtern berichtet, die sie alle gleichzeitig innehat. 

Helga König: Was erwarten Sie im Reformationsjahr 2017 von den Protestanten und was von den Katholiken? 

 Christian  Nürnberger, Petra Gerster
Christian Nürnberger: Von den Protestanten erwarte ich, dass sie heute wahrmachen, was sich einst der Kosmopolit Goethe gewünscht, aber nicht bekommen hatte: Ein Jahr vor dem 300jährigen Reformationsjubiläum 1817 hatte der Dichter in einem Brief geschrieben, "dieses Fest wäre so zu begehen, dass es jeder wohldenkende Katholik mitfeierte". Da war Goethe seiner Zeit und der ganzen Ökumene weit voraus. Der Nationalismus hatte die Köpfe erfasst, für diesen wurde Luther vereinnahmt als deutscher Held, pflichtbewusster Hausvater, vorbildlicher Untertan. Zahlreiche Reden waren getränkt mit antifranzösischen Ressentiments und Antipathien gegen den Geist der Französischen Revolution. Ein weiteres Jahrhundert später, 1917, war die aggressiv-nationalistische Saat aufgegangen. Man befand sich im Krieg mit Frankreich. Luther wurde vor den Karren des Ersten Weltkriegs gespannt als Retter der Deutschen, Vorbild für Kampfeswillen, Soldat gegen den Feind. "Ein feste Burg ist unser Gott" wurde das Kampflied der deutschen Soldaten. Daher erwarte ich nach dieser Geschichte heute von den Protestanten, dass sie aus ihrem Jubiläum mehr machen als nur ein Marketing-Event und sie ihren Luther wirklich so feiern, dass nicht nur die Katholiken, sondern die ganze Welt freudig mitfeiern kann, die Katholiken aber besonders. Für den Fall, dass den Protestanten so eine Feier im ökumenischen Geist gelingt, erwarte ich von den Katholiken, dass sie dann auch kommen und mitfeiern, denn die Reformation war ja auch für die katholische Kirche gut. Von beiden erwarte ich daher, dass sie die Trennung nicht nur als schmerzliche Kirchenspaltung empfinden, sondern auch als Fortschritts-Gewinn für beide. Statt als Protestant immer nur bekümmert darunter zu leiden, dass man leider noch immer getrennt ist von den Katholiken, und statt als Katholik darunter zu leiden, dass es noch immer diese uneinsichtig-verstockte, protestantische Nicht-Kirche gibt, sollte man sich ab und zu auch einmal darüber freuen, dass es tatsächlich beide gibt. Ich zumindest habe kein Problem damit, denn der Papst wird weiterhin gebraucht, um den Christen in der Welt eine Stimme zu verleihen. Wenn er den Kapitalismus kritisiert oder Kriegsparteien zur Mäßigung und zum Frieden aufruft, wird er auf der ganzen Welt gehört. Wenn der EKD-Ratsvorsitzende das tut, stößt das auf begrenztes Interesse. Darum spricht der Papst, wenn er sich für Frieden, Freiheit und gegen die Herrschaft des Geldes und gegen die Verzweckung des Menschen ausspricht, immer auch für die Protestanten mit. Sagt er aber, Frauen taugten nicht als Priester, die Pille zu nehmen verstoße gegen göttliches Gebot, und Homosexualität sei Sünde, dann widersprechen die Protestanten, und darin sprechen sie auch vielen Katholiken aus dem Herzen. Eigentlich ist es also gar nicht so ein großes Unglück, dass es die eine große katholische Kirche und die vielen kleinen chaotischen Schrebergartenkirchen des Protestantismus und darüber hinaus noch die bunte Vielfalt der anderen Religionen gibt. Wenn sie klug sind, fordern sie einander heraus, korrigieren einander, sichern damit ihr gemeinsames Überleben, und bei allem Streit und allen Differenzen gehören sie doch zusammen.

Liebe Petra Gerster, lieber Christian Nürnberger, herzlichen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.

Ihre Helga König

Überall im Handel erhältlich


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen